Wie, wo und warum werden scheinbar ganz normale Leute zu Künstlern? Die Kunsthochulen in aller Welt sind voll von mehr oder minder einfallsreichen, mehr oder minder begabten und handwerklich geschickten jungen Leuten aus anständigen Elternhäusern, die auf durch kulturelle Konventionen und staatliche Förderung abgesicherten und befestigten Pfaden zum Künstlertum streben. Sie alle träumen von Ruhm, Reichtum, Unabhängigkeit und vom lockeren Leben der Bohème. Wenn sie viel Glück haben, dann werden einige von ihnen am Ziel brave Produzenten von hübscher und zumindest zeitweilig relativ verkäuflicher Kunstmarkt-Konfektion sein. Nur allzu viele der üblichen Kunsthochschul-Abgänger werden nach kurzem oder längerem Kampf den Traum vom schöpferischen Sein ein für alle Mal begraben müssen, viele werden sich zeitlebens zur seit jeher mitgliederstarken Gruppe der verkannten Genies gesellen.
Die Brüder Guido und Johannes Häfner, eigenwilliger Bildhauer der eine, eigenwilliger Maler und Grafiker der andere, haben einen vom Üblichen abweichenden, ganz und gar nicht geraden und ebenen Weg zum Künstler-Beruf gewählt, einen Weg, der oft durch Dunkelheit, Dickicht und sumpfiges Gelände geführt hat. Sie haben sich aber allen Beschwerlichkeiten zum Trotz niemals entmutigen lassen, sie haben bis heute nicht aufgegeben und auf diese Weise das eine oder andere Etappenziel erreicht. Zum nicht geringen Erstaunen vieler ihrer regionalen und überregionalen Künstler-Kolleginnen und Kollegen. Denn Guido und Johannes Häfner gehören zur kleinen Schar der
Seiteneinsteiger, der Abenteurer und Freibeuter im Kunstbetrieb. Als guter Geist leitet und behütet sie seit ihren Anfängen ihr ursprünglich-instinktiver, instinktsicherer Hang und Drang zum kreativen Tun. Sie zählen zu den leidenschaftlichen Liebhabern des bildnerischen Gestaltens, zu den experimentierfreudigen Autodidakten, die gelegentliches Scheitern nicht entmutigt, sondern nur immer wagemutiger werden lässt.
Aus der Sicht der bürgerlich-wohlgeordneten, von akademischer Tradition und Markt-Kalkül beherrschten “etablierten” Kunst-Szene haben die Schaffens-Motivation und die Bild-Praxis der Häfners leicht etwas irritierend Irreguläres, etwas -mit ständigem Misstrauen beäugtes- Außenseiterisches. Obwohl ständige vollmundige Bekenntnisse zur angeblich grenzenlosen künstlerischen Freiheit hierzulande obligatorisch sind, führte und führt der besagte Outsider-Ruch der Häfners im Ausstellungs- und Verkaufs-Alltag nach wie vor zu allerlei Problemen und lästigen Missverständnissen.
Wie sollten, wie konnten sie dem begegnen? Selbst-Propagierung und Selbstvermarktung sind die allemal angemessenen und vor allem wirksamen Formen der Reaktion, zu denen das Brüder-Paar gegriffen hat. Nach allerlei anfänglichen Experimenten, zum Beispiel mit selbstorganisierten Jahresausstellungen und mit einer Internet-Galerie, wurde dann ihre tatsächlich öffentlichkeitswirksamste Waffe der von ihnen im Jahr 1991 gegründete ICHverlag.
Der Name demonstriert Selbstbewusstsein, aber gewiss nicht im Sinn von weltfremder Egozentrik. Ursprünglich entstand der Name eigentlich sogar aus einen Missverständnis. Der Maler und Grafiker Johannes Häfner signierte nämlich seine Bilder mit einem schwungvoll geschriebenen “Joh”, der Kurzform seines Vornamens, die aber von den meisten Betrachter als “Ich” gelesen wurde. Später dann erkannten die Verlagsgründer, dass die Marke ICHverlag auf wundersame Weise zur Gedankenwelt ihres großen kulturhistorischen Vorbildes E:T:A: Hoffmann passte. Dieser ungemein romantisch-fantasievolle, aber auch ironisch-kritische Geist schrieb 1809 in sein Tagebuch: “Ich denke mir mein Ich durch ein Vervielfältigungsglas, alle Gestalten, die sich um mich herum bewegen, sind Ichs und ich ärgere mich über ihr Tun und Lassen.” Besser und treffender ist der weltanschauliche Ansatz der ICHverleger Guido und Johannes Häfner kaum zu beschreiben.
Vor allem Johannes ärgerte sich über das Tun und Lassen all der Gestalten um ihn herum. Auf seine kritische Auseinandersetzung mit der in den frühen 1990er Jahren in Deutschland aktuellen Realität verweisen die Titel von damals im ICHverlag veröffentlichten Mappenwerken: “Wirklichkeiten” (1991), “Schaufenster” (1992), “Programm-Ablauf-Pläne” (1992) und “Das Gute” (1994). Das klingt eigentlich alles ziemlich harmlos, war aber der Beginn von Johannes Häfners bis dato andauerndem publizistischen Kampf gegen Konsum-Idiotie und heuchlerisches Gutmenschentum.
Ganz auf der Höhe der Zeit, aber gerade deshalb nicht recht in die offizielle Kunstwelt passend, waren die bei der ICHverlag-Produktion von Anfang an eingesetzten Techniken wie digital bearbeitete Fotografie, Fotokopie und Computer-Grafik. Schließlich hatte Johannes Häfner nicht nur Kommunikationsdesign an der Fachhochschule in Nürnberg studiert, sondern anschließend auch eine Ausbildung zum EDV-Kaufmann absolviert. Dass er die digitale Technik nicht nur als Hilfsmittel, sondern als Bedeutungs-Träger und genuin künstlerische Ausdrucksformen be-trachtete, bewirkte vor 25 Jahren noch Kopfschütteln in einer Szene, die Dinge wie Filz, Fett, Honig, Schokolade und Sauerkraut, ja sogar Sperma und menschliche Fäkalien als legitime Kunstmaterialien längst akzeptierte.
Doch nicht nur formal, auch inhaltlich war Johannes Häfner zu Beginn der 1990er Jahre zwar immer nahe an der Realität, aber alles andere als “auf Linie”. Man bedenke: Es war die erste Hoch-Zeit des entfesselten, übermütigen, quasi “toll gewordenen” Kapitalismus im frisch wiedervereinigten Deutschland. Wir erlebten die vermeintlichen Wunder der Globalisierung, die Wunder des neuen, welt-umspannenden Handels und Wandels, wir entdeckt die angeblich fast alle unsere bisherigen Verständnis- und Verständigungs-Probleme lösenden Möglichkeiten einer weltweiten Dauer-”Kommunikation”. Alles schien super, alle waren permanent gut drauf: Die dann ebenfalls internationale Finanzkrise von 2009 war in den 90ern noch weit entfernt. Wer sie bereits 1992 am Horizont heraufziehen sah, galt als (linker) Miesmacher.
Wie auch immer: Johannes Häfner gehörte jedenfalls zu denen, welche die “neue Weltordnung” auch schon vor der Krise nicht recht begeistern. Er verfügte über eine Künstler-Sensibilität, und -Mentalität, die an keiner Akademie erlernt werden kann. Das Unbehagen, das er angesichts der kulturellen Entwicklung nach 1990 verspürte, wollte und musste er auf seine ureigenste Weise schöpferisch artikulieren. So sah Häfner zum Beispiel, mit welcher Bedenkenlosigkeit, ja Unverantwortlichkeit die Mehrheit seiner Zeitgenossen alles “Neue” für der Weisheit letzten Schluss hielt, für die ultimative
Wunscherfüllung, welche, so konnte man damals manche Leute allen Ernstes sagen hören, alles Vorhergegangene, alle bisherigen Erkenntnisse und Errungenschaften überflüssig und wertlos hat werden lassen. Solche krude Geschichtslosigkeit seiner Zeitgenossen war für den kritischen Künstler keineswegs Ausdruck von Modernität, sondern allenfalls der Beweis von massenhafter Torheit.
Ebenso respektvoll wie beneidenswert unbefangen ist Johannes Häfners eigener Umgang als Autor, Maler, Grafiker, Musiker und Komponist, Buchgestalter, Drucker und Verleger mit den verschiedenen Aspekten kultureller Überlieferung. Er gehört zweifellos zu jenen Unverzichtbaren, über die der moderne Klassiker Thomas Mann in den 1920er Jahren notierte: “Die besten Diener des Neuen mögen diejenigen sein, die das Alte kennen und lieben und es ins Neue hinübertragen.” Bereits seit 1980 blüht und gedeiht des späteren ICHverlegers Begeisterung für in traditionellem Verfahren handwerklich gesetzte und gedruckte Texte. Hunderte und Aberhunderte von historischen Druck-Buchstaben und mehrere alte Druckpressen hat er seither gesammelt, seit der Verlagsgründung im Jahr 1991 ist all das regelmäßig im Einsatz.
Bei der Gestaltung seiner aufwändigen Künstlerbücher kombiniert Häfner die buchdruckerischen Traditionstechniken ganz selbstverständlich mit computergestützten grafischen Experimenten. Die in aller Regel in kleinen bis kleinsten (limitierten) Auflagen erscheinenden Bücher, Leporelli und Mappen aus dem ICHverlag sind bibliophile Kunstwerke, Bild-Text-Objekte, aber auch -und nicht zuletzt- Informations- und Meinungsträger. Die Vermittlung von purer, wertfreier Ästhetik in gefälliger Regelhaftigkeit ist ebenso wenig beabsichtigt, wie eine wohlfeile Demonstration von zeitgeistigem Opportunismus. Der ICHverlag leistet sich den Luxus der Unangepasstheit, den Luxus der vom Mainstream abweichenden Meinung und des (wirklich) individuellen Geschmacks.
Die Verlagsproduktion verbindet daher manches, was gemeinhin als schwer oder überhaupt nicht vereinbar gilt: Präzision und Leichtigkeit, Auf-klärung und Romantik, Uraltes und Brandneues, Begeisterung und Skepsis, Ernsthaftigkeit und Witz, Triviali-tät und Hochkultur. Die Vielfalt und Bandbreite der von Häfner gefundenen und selbst entwickelten Gescheitheit spiegelt die Text-Auswahl. Buchkünstlerisch aufbereitet wurden vom ICHverlag-Macher bislang unter anderem Texte und raffiniert ausgewählte und arrangierte Text-Fragmente von so unterschiedlichen Autoren wie Arthur Schopenhauer und Karl Marx, Franz Kafka und Joachim Ringelnatz, Bertolt Brecht und -immer wieder- E.T.A. Hoffmann.
Das Faszinosum Hoffmann schlug Guido und Johannes Häfner jahrelang in seinen Bann, es fungierte als Ermutigung und Ansporn zugleich. Es war E.T.A. Hoffmann, der lebenslang Unangepasste, der den Häfners verwandtschaftlich nahe und vertraut wurde. Es war Hoffmann, der kriti-sche Jurist und (zeitweilige) renitente Staatsbedienstete, Hoffmann der Antibürger und Vollblut-Künstler, der Schöpfer aus innerem Drang, der sich alles selbst beigebracht hat. Hoffmann der Vertreter einer anderen deutschen Romantik, der sich nie in die Innerlichkeit flüchtete, der nie einer reaktionär grundierten Mittelalterschwärmerei verfiel. Hoffmann, dessen anarchisch wuchernde Fantasie niemals aufhörte, sich an der gesellschaftlichen Realität zu reiben. Hoffmann, der Vorläufer eines internationalen Surrealismus, der im frühen 20. Jahrhundert die Künste in den Dienst der politischen Veränderung zu stellen versuchte.
Im Geist des Surrealismus bewusst provokativ hat Johannes Häfner seine als “Jahresprojekte” angelegten Bild-Kommentare zur jüngeren und jüngsten Zeit-Geschichte gestaltet. Reihen-Tiel wie “Die Gutmenscher”, “Ich bin ein Terrorist”, “Die RAF fehlt” oder “Die Lügen-Demokratie” sprechen für sich. Formal handelt es sich bei diesen Veröffentlichungen um vielschichtige Bild-Text-Collagen, inhaltlich bewegt sich das Ganze zwi-schen persönlichem Bekenntnis, Flugblatt und Pamphlet. “Es dürfte (derzeit) wenig Künstler geben, die den Mut haben, so eindeutig (politisch) Stellung zu beziehen”, schrieb dazu vor einiger Zeit der Germanist, Bücherliebhaber und -sammler Reinhard Grüner.
Für Häfner ist das eine Frage der Selbst-Achtung und der (nicht zuletzt erziehungsbedingten) Haltung. Wie für die von ihm als Publizistin hoch geschätzte Ulrike Meinhof, so besteht auch für Johannes Häfner eine weltanschauliche Verbindung zwi-
schen den christlichen Moral-Geboten, mit denen er aufgewachsen ist, und den von ihm heute unterstützten Forderungen linker, sozialistischer Politik. Eine seiner gemalten und collagierten Bild-Serien konfrontiert die “Hilferufe” des “Vaterunser” mit der heute mehr denn je unsere gesamte Erde beherrschenden Alltäglichkeit des Grauens, die Bilder zeigen im harten Nebeneinander das Leben, wie es sein sollte, und das Leben, wie es ist. Ohne jeden weiteren Kommentar wirkt diese eigenwillige “Vaterunser”-Bildserie wie eine Folge von glühenden Aufrufen zum letzten Gefecht gegen die Mächte des Bösen und für ein irdisches Gottesreich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Häf-ners künstlerisch-weltanschauliche Botschaft besagt: Der “gute Wille” darf nicht abstrakt bleiben, er muss höchst konkret sein, er muss ein “Humanismus der Tat” werden.
Seit den Jahren 1995/96 erweitert Johannes Häfners Bruder Guido, bis zu jener Zeit ein eher “stiller” Teilhaber, das Produktions-Angebot des ICHverlages. Seither gehören neben den Grafikmappen und Künstlerbüchern auch Skulpturen zum ICH-Programm. Guido Häfner, gelernter Mechaniker und studierter Techniker, sägt, schneidet und schnitzt Figuren aus dicken und dünneren Stahlplatten und Baumstämmen, ein Bildhauer oder Plastiker im herkömmlichen, konservativen Sinn ist er dennoch nicht.
Seine künstlerische Herangehensweise orientiert sich nicht am klassischen Rund- oder Vollplastik-Ideal, sondern eher an den Arbeitweisen von Schmied, Metallbauer und Zimmermann. Guidos Skulpturen sind formale und inhaltliche Konstruktionen und offensichtlich keine jener Nachahmungen gewachsener Natur, welche die alte europäische Bilhauertradition fordert. Wenn seine Arbeiten an Historisches erinnern, dann eher an archaische Fetische, Idole, Feldzeichen oder Flurdenkmäler wie Wegkreuze oder “Marterln”. Das zentrale Thema der oft stark abstrahierten Darstellungen ist der Mensch als der wohl am wenigsten fertige, abgeschlossene Teil der Schöpfung. Bei Guido Häfner ist der angebliche “Homo sapiens” ein Urvieh, ein Affektbündel, ein grober, ungeschlachter Klotz oder ein reichlich vereinfachter, skizzenhafter Entwurf in Gestalt einer flachen Silhouette. Bei näherer Betrachtung ist allerdings oft auch ein im Groben eingebetteter “Kern” einer künftigen (Weiter-)Entwicklung erkennbar.
Die aus dem oberfränkischen Örtchen Schlaifhausen stammenden Häfner-Brüder verkörpern sozusagen archetypisch die beiden Hauptelemente des fränkischen Volks-Charakters. Johannes steht für den allzeit hellwachen, beweglich-kritischen Geist, Guido ist der bodenständige, bedächtige, manchmal ein bisschen dickschädelige Macher. Vereinfachend kann über ihre jeweilige Weltsicht gesagt werden: Während Johannes revolutionäre Hoffnungen hegt, vertraut sein (jüngerer) Bruder auf einen evolutionären Fortschritt.
Was in beiden Fällen keineswegs ihrem (auch und vor allem) in der heimatlichen Region tief verwurzelten Traditions-Sinn widerspricht. Im Gegenteil! Was das betrifft, teilen die “Brothers in Art” (wie sie sich selbst nennen) die Meinung des Philosophen G.W.F. Hegel, dass die haltbaren Teile der Tradition in jedem echten Fortschritt “aufgehoben”, das heißt gesichert und bewahrt, werden. Dieser heute doch eher selten gewordene Kultur-Optimismus verleiht den Häfners die erstaunliche Harnäckigkeit, mit der sie seit einem Vierteljahrhundert an und in ihrem Verlags-Projekt arbeiten. Mögen ihnen und dem ICHverlag noch viele schöpferische Jahre beschieden sein.
Wir brauchen Künstler wie die Brüder Häfner. Ihr Wirken ist ein Mut machender Vorschein einer hoffentlich einmal kommenden sozial entwickelteren Gesellschaft, in der jeder Mensch all seine künstlerischen, kreativen Fähigkeiten und Neigungen nach Belieben entwickeln und ausleben können wird.